"Der Mut zum wirklichen Erziehen muss wieder wachsen"

Bei seiner Amtseinführung im Januar 1999 stellte der neue fachliche Leiter des Schulamtes Eichstätt, Josef Richter, in einer programmatischen Rede seine "Gedanken zur aktuellen pädagogischen Situation" vor. Wir dokumentieren daraus die fünf sehr erwähnenswerten Kernpunkte.

Heute muss sich - so meine ich - jegliche schulische Reform an der konkreten Situation des Kindes orientieren, wenn sie Erfolg haben will. Ich möchte hierzu nur 5 Aspekte andeuten:

1. Eine gesteigerte Individualität der Kinder erfordert ein adäquates Methodenkonzept

Wir müssen uns in der Schule, ob wir das gut finden oder nicht, auf immer individualistischere Kinder einstellen, die aus unterschiedlichen Erziehungsmilieus, Schulerwartungshorizonten, auch aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen kommen. Dies erfordert in Zukunft noch mehr Offenheit und Flexibilität in der Methodenwahl, um die Kinder wirklich zu erreichen. Andererseits kann aber auch nicht gänzlich auf Beständigkeit, feste Gewohnheiten und Rituale verzichtet werden, an denen sich Schüler festmachen. Weil professionelles didaktisches und methodisches Handeln ein wichtiges Element zur Qualitätssteigerung des Unterrichts ist, kommt in diesem Zusammenhang auch der gesamten Lehrerbildung eine Schlüsselrolle zu. Die Verantwortlichen im Bildungsbereich dürfen es nicht zulassen, die Ausbildung von Lehrkräften auch des Primarbereiches weg von der Universität an die Fachhochschulen zu verlagern. Es darf nicht Gegenstand bildungspolitischer Diskussionen werden, Erziehung gegen fachliches Lernen auszuspielen. Der erfahrene Pädagoge weiß, dass Erziehung und fachliches Lernen nur verschiedene Seiten der Münze Bildung sind. Freilich sollten - und das ist meiner Meinung nach unbestritten - die fachdidaktischen und schulpädagogischen Erfordernisse in der gegenwärtigen Lehrerausbildung etwas stärker zum Tragen kommen.

2. Hauptzweck der Schule bleibt auch in Zukunft das Lernen, das Anstrengung und
Leistungsbereitschaft erfordert

Trotz aller Reformen gilt auch für die zukünftige Schule, dass Lernen Freude machen kann, aber häufig auch Anstrengung, mühsame Auseinandersetzung und Übung verlangt. Wer nur das eine ohne das andere will, erweist sich selbst und den Kindern einen schlechten Dienst. Wer glaubt, dass Lernen und Anstrengung durch Computerspiele, Lernprogramme und Internet überholt sind, wird sich irren. Dies muss Schülern und Eltern einsichtig gemacht werden.

3. Die Gefahren der visuellen Medien müssen in ihrer Wirkung auf den
Lernprozess stärker bedacht werden.

Die moderne Welt der Medien, vor allem der visuellen in Form des Fernsehens und des Computers, macht den Kindern viele flüchtige Angebote, die die Illusion des Wissens suggerieren, ohne größere, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen. Die oft praktizierte und vielfach im Unterricht beobachtbare reine Informationsübergabe und das Ausfüllen und Ablegen von Arbeitsblättern können das denkende Durchdringen und die geistige Vertiefung von Sachverhalten im Gespräch und in der Diskussion nicht ersetzen. Medien prägen, ja überwältigen oft die Vorstellungen der Kinder von der Welt, das Wissen aus eigener Erfahrung wird dadurch immer geringer. Die Schule hat auch in Zukunft die wichtige Aufgabe, den Schülern vermehrt Primärerfahrungen zu ermöglichen.

4. Die heutige erziehliche Situation erfordert verstärkt auch die Einübung in Stille und
Meditation

Heute befinden sich viele Kinder in einem permanenten Zustand übermäßiger Überreizung, die eine motorische und verbale Unruhe zur Folge hat. Lehrkräfte berichten oft, dass sie gerade am Wochenbeginn damit ihre leidvollen Erfahrungen machen. Schulpsychologen sprechen gar von zerlärmten Kindern und betonen, dass sich diese permanente Überreizung auch auf die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit der Schüler negativ auswirkt. Phasen der Stille, konzentriertes Hören und meditative Formen sind als Gegengewicht bewusst zu planen und zu realisieren. Sie beruhigen die Psyche der Kinder und wirken sich positiv auf schulische Lernprozesse aus.

5. Die erziehliche Bedeutung von Sport und Musik verdient wieder größere Bedeutung

Die erziehliche Bedeutung der musischen Fächer muss in Zukunft wieder verstärkt gesehen werden. Als ausgleichendes Element zur rein kognitiven Arbeit wirken sie prägend auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen. Gemeinschaftsspiele, sportliche Wettkämpfe, Tanzformen, das gemeinsame Musizieren und Spielen in der Gruppe erfordern die Einhaltung fester Spielregeln, das Aufeinanderhören, die gegenseitige Rücksichtnahme und Beachtung, Haltungen also, die sich unbewusst und erziehlich positiv auf das Gesamtverhalten von Schülerinnen und Schülern auswirken. Im Blick auf diese Tatsache würde es unverständlich erscheinen, wenn gerade diese Bereiche von Stundenkürzungen betroffen wären.

Wenn die Schule die neuen Herausforderungen ernst nimmt, wird sich an ihren Strukturen sicherlich manches ändern. Gleich bleiben aber wird, dass Erziehen und Unter-richten auch in Zukunft zu den ureigensten Aufgaben der Schule gehören müs-sen, dass die Qualität des Lernens im Mittelpunkt stehen und der Mut zum wirklichen Erziehen wieder wachsen muss. Dazu gehört auch, dass Eltern und Lehrer den Kindern wieder Grenzen setzen. Das schließt Sanktionen ein, wenn diese Grenzen übertreten werden. Kinder lernen Selbständigkeit auch, wenn sie diese Wider-stände und Führung im guten Sinne erfahren...